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Wasmut Reyer

/ #898 BZ-Bericht zur Nitsch-Performance und Kommentare

2013-06-26 10:25


Bildabrundung: BZ-Bericht zur Nitsch-Performance und Kommentare

Datum: Tue, 25 Jun 2013 00:37:43 +0200

Liebe virtuelle Nitsch-Orgien-Anteilnehmer,

zur Abrundung des Bildes hier noch einen Bericht der Berliner Zeitung. Er ist lesenswert, weil hier durch einen schreibgewandten Journalisten vorgeführt wird, wie sich schwarz in weiß, ein lt. eigener Aussage verhinderter Menschenblut-Orgiast in einen Menschenfreund und – noch eine Nummer größer – wie sich Verteidiger von Ethik und Ästhetik in eiferne Kulturbanausen verwandeln lassen.



Noch ein weiterer Schritt und es wird, wie in Orwells "1984", von Staats wegen erklärt: "Krieg ist Frieden" und "Liebe ist Haß". Die Gefahr ist näher als wir uns bisher vorstellen konnten.



Aus diesem Grund ist es noch wichtiger als ohnehin schon, nicht nachzulassen bei den Versuchen, mit unseren bescheidenen Kräften gegenzusteuern.

Herzliche Grüße,
Wasmut Reyer

P.S. Ein kleiner, doch lesenswerter Trost sind die angehängten Kommentare. Sie werfen auch ein Schlaglicht auf den "Maistream"-Journalismus.

Montag
24. Juni 2013
Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt – Berliner Zeitung

Kultur
Feuilleton-Debatten, Interviews und Kritiken zu Medien, Literatur, Kunst, Theater, Musik und Film
23.06.2013
Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch Der Mensch, das Schwein
Von Dirk Pilz

Will im Zuge seines Leipziger Orgien-Mysterien-Theaters schlachten: Aktionskünstler Hermann Nitsch.
Will im Zuge seines Leipziger "Orgien-Mysterien-Theaters" schlachten: Aktionskünstler Hermann Nitsch.
Foto: AFP

Skandal, Skandal! Wurde schon gerufen, bevor der Maler, Performer und Aktionist Hermann Nitsch überhaupt die Bühne des Leipziger Centraltheaters betreten hatte. Fleisch und Blut ruft Proteste hervor. Nitschs „Orgie“ blieb menschenfreundlich.

Am vergangenen Wochenende ist es am Centraltheater Leipzig zu einer interessanten, gleichwohl anstrengenden und sehr langen, vor allem aber geruchs- und geräuschsintensiven Vorstellung des berühmten „Orgien-Mysterien-Theaters“ von Hermann Nitsch gekommen. Seit den 60er-Jahren bringt der Wiener Maler, Performer, Aktionist und Menschenfreund Nitsch es zur Aufführung; in Leipzig fand jetzt die 138. Aktion statt, es war die erste im Osten Deutschlands.

Das ist Sebastian Hartmann zu danken, der mit diesem Gastspiel seine fünfjährige Intendanz in Leipzig beendet. Er hat damit den Zuschauern abermals ermöglicht, was seine umstrittene, das Theater und die Stadt aufreibende Regentschaft stets vermochte: die Vielfalt und Unerforschlichkeit des gegenwärtigen Bühnenschaffens bestaunen zu dürfen.

Unzufrieden müssen indes jene sein, die von ihrem Heißinteresse an Theater immer dann überrascht werden, wenn sich die Möglichkeit zur Ereiferung bietet, wenn also auf den Bühnen etwas vorfällt oder ankündigt wird, das den gewöhnlichen Erwartungen und Vorstellungen von Darstellendem Spiel widerspricht, besonders, wenn Nackte oder Tiere vorkommen. Nackte und Tiere kommen im „Orgien-Mysterien-Theater“ zwar reichlich vor, aber die Freunde von Skandalnachrichten werden dennoch enttäuscht sein, besonders die Anhänger der Tierschutzpartei: Ein Skandal hat nicht stattgefunden. Es wurden keine Tiere geschändet, auch nicht auf der Bühne getötet. Alle zum Einsatz gebrachten toten Tiere, mehrere Schweine, drei Störe, ein Rind, wurden vom Theater ordnungsgemäß angekauft; auch die Entsorgung der Fleischreste geschah, so versicherte das Theater, nach allen Auflagen, die hierfür in Deutschland aufgestellt sind.

Dennoch hatten sich am Sonnabend einige Dutzend radikale Tierschützer vor dem Theater versammelt und Plakate mit Aufschriften wie „Heute Tiere, morgen Menschen“ oder „Das ist Mord“ gezeigt. Auch der bedrohliche Ruf „Nitsch komm raus“ ertönte. Zwei junge Frauen gelangten später in die Vorstellung und riefen „Ekelhaft!“, sonderbarerweise noch bevor überhaupt etwas geschehen war, das diese Beschreibung verdient hätte. Ein junger Mann probierte sich zudem an einer Sitzblockade und wurde von stämmigen Sicherheitsmännern humorlos entfernt. Danach verlief die Veranstaltung vollkommen ungestört. Die Protestler sind dann auch recht bald abgezogen und saßen in den umliegenden Gastwirtschaften beim Bier. Auch die herbeibestellten Polizisten durften ihren Dienst beenden. Man gewann ohnehin den Eindruck, dass die Demonstranten sich im Ort geirrt haben müssen – vor einer gewöhnlichen Fleischerei wäre derlei Protest sowohl wirkungs- als auch sinnvoller.

Kein Skandal in Leipzig also, sehr schön. Auch den von den Stadtoberen im Vorfeld empfohlenen „Sichtschutz“ bedurfte es nicht. Also durften sich die Zuschauer der Kunst überlassen. Allerdings wird es auch unter ihnen reichlich Enttäuschte geben. Denn über weite Teile ist das „Orgien-Mysterien-Theater“ mit dem Herumräumen von Tieren, Bluteimern und Podesten beschäftigt. Ein Trillerpfeifenspielleiter kommandiert die 46 weiß gekleideten Akteure, die ihre Szenen wie Handwerker, zuweilen gar wie Fließbandarbeiter verrichten. Zunächst wird im Foyer gewerkelt. Auf einem Tisch liegt ein Berg Tomaten, der auf Pfiff zermanscht wird.

Auf einem anderen wurden drei nackte Männer gebettet, einem legt man erst einen toten Stör auf den Leib, hernach wird er mit Blut überschüttet. Mehrfach wird eine ausgeweidete Sau herbeigeschafft, ein nackter Mensch wird unter kleine Holzbänke platziert, darauf kommt die Sau zum Liegen. Dann werden Fleischbatzen in den Tierleib geworfen, viel Blut und Wasser darüber geschüttet, während mehrere Spieler im Matsch wühlen und auf Kommando zu zucken beginnen. Dazu erschafft ein großes, im Raum verteiltes Orchester ein Dauergrollen, der Dirigent hält Schilder hoch: A-Dur, C-Moll.

In einer zentralen Szene tritt der fast 75-jährige Nitsch mit einem kleinen Skalpell auf, schneidet sehr liebevoll ein kleines Loch in eine Sau, die an Holzpfählen über einer nackten Frau hängt. Durch das Loch dürfen die Zuschauer Blut aus schmalen Ampullen schütten: Aus der gekreuzigten Sau tropft Blut auf den stummen Mensch. Der Mensch, das Schwein, der Tod, das Leben – die Bilder sprechen eine eindeutige Sprache.

Das Publikum drängt und drängelt derweil immerfort von einer Szene zur nächsten, stets in der häufig vergeblichen Hoffnung, einen schönen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Das ständige Geschiebe und die Hektik der Spieler ist der beabsichtigten Wirkung leider sehr abträglich. Statt einer intensiven Erfahrung, wie Nitsch sie will, meint man sich hier vielfach auf einen Jahrmarkt der Sensationen versetzt. Bald wird man müde. Nicht, weil es an Skandalösem, sondern weil es an Intensität, Dichte, auch Ernsthaftigkeit mangelt.

Das gesamte Setting ist zwar äußerlich betrachtet der katholischen Liturgie abgeschaut, aber zu dieser gehört vor allem auch eine strenge Ordnung des Publikums. Die Würde einer Feier der Existenz braucht eine würdige Form. Hier aber herrscht nur Betriebsamkeit. Nur einmal, nach der Pause (auch das ist neu: eine Orgie mit Pause), wenn das Rind gekreuzigt ist und zwei Männer an Kreuzen davor aufgebaut werden, die Musik sich zum Rausch verdichtet und die Kameramenschen ausnahmsweise einmal nicht im Bild stehen, ahnt man, was dieses Theater vermag: Erschütterung des Herzens, Läuterung der Sinne.